Contergan: Spricht der Skandal für oder gegen Tierversuche?

In den Jahren 1958 bis 1962 kamen zwischen 5.000 und 10.000 Kinder mit Fehlbildungen der Arme und Beine zur Welt, nachdem ihre Mütter in der Schwangerschaft das Beruhigungs- und Schlafmittel Contergan eingenommen hatten. Ja, der Skandal um das Medikament mit dem Wirkstoff Thalidomid ist eine gefühlte Ewigkeit her, und viele von uns kennen ihn nur aus den Erzählungen unserer Eltern. Dennoch ist es wichtig, sich mit dem Fall Contergan auseinanderzusetzen – schon alleine deswegen, weil die Pharmakatastrophe von Tierversuchsbefürwortern oft fälschlicherweise als Pro-Argument für die Notwendigkeit von Tierversuchen angeführt wird.

Nachfolgend erläutern wir zunächst die Pro- und Contra-Argumente bezüglich der Frage, ob der Contergan-Skandal für oder gegen Tierversuche spricht. Anschließend beleuchten wir ausführlich, warum der Skandal um Contergan uns bei den Bemühungen, Tierversuche durch zuverlässige Alternativen zu ersetzen, auch noch Jahrzehnte später bestärkt.

  • Pro

    Der Contergan-Skandal hat dazu geführt, dass bei der Zulassung neuer Medikamente noch strenger vorgegangen wird und mehr Tierversuche verlangt werden – Stichwort Teratogenität.

  • Contra

    Tier und Mensch reagieren völlig unterschiedlich auf Thalidomid. Der Contergan-Skandal verdeutlicht, dass der Tierversuch keine Sicherheit bietet und Ergebnisse nicht auf den Menschen übertragen werden können.

Hintergrundinfo Teratogenität: Unter Teratogenität versteht man die Fähigkeit von Substanzen oder Umweltfaktoren, Fehlbildungen oder Fehlfunktionen von Organen beim Embryo zu verursachen. Spektrum.de schreibt: Unter Teratogenen finden sich auch zahlreiche Arzneimittel, weswegen Medikamente „während der Schwangerschaft nur sehr kontrolliert und unter genauer Abwägung der Vor- und Nachteile verabreicht werden“ sollen. „Bei der experimentellen Prüfung der Teratogenität versagen Tierversuche häufig, da die Ansprechbarkeit auf Teratogene offenbar interspezifisch sehr unterschiedlich ist.“ Dennoch ist die reproduktionstoxikologische Prüfung (darunter fällt Teratogenität) im Tierversuch seit dem Contergan-Skandal für neue Arzneimittel vorgeschrieben.

Um die Hintergründe der oben genannten Argumente vollständig zu verstehen, müssen zunächst folgende Fragen geklärt werden:

Wurde Thalidomid vor seiner Zulassung an schwangeren* Tieren getestet?

Kurz nach Bekanntwerden des Skandals wurden alle Dokumente vernichtet, die Tierversuche im Entwicklungsprozess von Thalidomid negieren oder beweisen hätten können. Verfechter des Pro-Arguments stützen sich jedoch darauf, dass der Skandal um Contergan verdeutlicht hat, dass umfangreich im Tierversuch getestet werden muss – auch auf Teratogenität, somit an schwangeren Tieren.

Aber: Man wusste zur Zeit des Contergan-Skandals längst, dass Wirkstoffe über die Plazenta in den Embryo gelangen können, und Tests zur Teratogenität waren bereits gängige Praxis bei der Prüfung von Arzneimitteln. Da die dokumentierenden Unterlagen jedoch vernichtet wurden, wird man nie mit Sicherheit sagen können, welche Tierversuche durchgeführt wurden – es ist jedoch wahrscheinlich, dass Thalidomid vor seiner Zulassung an schwangeren Tieren getestet wurde.

Das führt zur nächsten Frage:

Hätten mehr Tierversuche den Skandal verhindert?

Unabhängig davon, welche Tierversuche nun wirklich vor der Zulassung von Thalidomid durchgeführt wurden – hätte man die schrecklichen Auswirkungen bei Schwangeren im Tierversuch vorhersehen können?

Die wissenschaftliche Arbeit, auf die wir uns in diesem Blog beziehen, setzt sich sehr ausführlich mit dieser Frage auseinander und kommt zu folgendem Schluss: Die spezifischen Missbildungen, die Thalidomid beim Menschen auslöst, können nur bei einzelnen Tierarten hervorgerufen werden. Es ist daher unwahrscheinlich, dass Tests mit schwangeren Tieren die schädliche Wirkung vorausgesagt hätten. Die Chance, dass eine der wenigen „geeigneten“ Tierarten in den Tests eingesetzt worden wäre, ist gering. Die Behauptung, dass die Teratogenität von Thalidomid in Tierversuchen vorhergesagt worden wäre, ist wissenschaftlich nicht belegbar.

Diese Schlussfolgerung wird von den nachfolgenden Fakten untermauert:

  • Thalidomid wurde inzwischen in mindestens 10 Linien von Ratten, 15 Linien von Mäusen, 11 Kaninchenrassen, 2 Hunderassen, 3 Linien von Hamstern, 8 Primatenarten und in anderen vielfältigen Spezies wie Katzen, Meerschweinchen, Schweinen und Frettchen getestet – teratogene Effekte konnten dabei nur vereinzelt beobachtet werden.
  • Mäuse als typische „Versuchstiere“ entwickeln nicht einmal bei einer Dosis von 4.000 mg/kg Thalidomid die angeborenen Missbildungen, die bei Menschen schon bei einer Dosis von 0,5 mg/kg auftreten.
  • Die Studien, die in Bezug auf teratogene Effekte in Ratten immer wieder herangezogen wurden, werden FALSCH zitiert – kurz zusammengefasst sind die Effekte aus den Studien andere als die bei Menschen. Für weitere Details verweisen wir auf die unten genannte wissenschaftliche Publikation.
  • Hinzu kommt, dass angeborene Missbildungen in Ratten zu rund 95 % von Wirkstoffen ausgelöst werden, die im Menschen keinen teratogenen Effekt zeigen. Ratten haben somit eine nahezu nicht vorhandene Vorhersagekraft bezüglich teratogener Effekte beim Menschen (in der Wissenschaft wird dazu der Wert PPV – positive predictive value – verwendet).
  • Bei Primaten wirkt Thalidomid vergleichbar zum Menschen und löst angeborene Missbildungen der Extremitäten aus. Weiterführende Untersuchungen mit 15 bekannten menschlichen Teratogenen an nicht-menschlichen Primaten zeigten allerdings deren Unzulänglichkeit als Modell für den Menschen: Nur 8 dieser Wirkstoffe erzeugten auch in mindestens einer Primatenspezies teratogene Effekte – auch hier gleicht die Vorhersagekraft einem Münzwurf.
  • Bis zum Jahr 2004 waren in etwa 1500 Teratogene bekannt – beim Menschen wirken allerdings nur etwa 40 davon teratogen. Die Vorhersagekraft diesbezüglich im Tierversuch ist somit sozusagen nicht existent. Außerdem: Jeder Wirkstoff in entsprechender Dosis zum entsprechenden Zeitpunkt der Schwangerschaft wirkt in zumindest einer Spezies teratogen.

Was überdies erwähnenswert ist und die mangelnde Übertragbarkeit zwischen verschiedenen Tieren und dem Menschen noch betont: Die beruhigende Wirkung von Thalidomid konnte im Tierversuch nicht nachgewiesen werden. Jegliche Forschungsergebnisse in Bezug auf die Teratogenität von Thalidomid werden dadurch relativiert, dass diese auf Forschung NACH dem Contergan-Skandal zurückzuführen sind.

Somit ist die Aussagekraft und damit der Sinn dieser Versuche in Bezug auf Thalidomid und generell in Bezug auf Teratogenität mehr als fragwürdig. Unverständlicherweise wurden und werden Mäuse und Ratten trotz des fehlenden Effekts weiter als Modellorganismus missbraucht.

Was zeigt uns dieser Skandal in Bezug auf Tierversuche?

Die Behauptung, Tierversuche hätten die Teratogenität von Thalidomid vorhersagen können, ist wissenschaftlich nicht haltbar. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass sogenannte Tiermodelle auch heute keine hohe Vorhersagekraft (PPV und NPV, positive und negative predicitve value) für die Beurteilung der Teratogenität oder anderer menschlicher Reaktionen auf medizinische Wirkstoffe haben.

Sicherheitstests von Medikamenten sind nicht der einzige Bereich, in dem Tierversuche keine Vorhersage menschlicher Reaktionen ermöglichen. Pharmakodynamik und pharmakokinetische Eigenschaften, also die biologische Wirkung von Medikamenten und die Vorgänge im Organismus, an Tieren zu testen, liefern keine auf den Menschen übertragbaren Ergebnisse. Mechanismen bezüglich Krankheiten und der Reaktion darauf variieren ebenfalls beträchtlich.

Das geht sogar so weit, dass Wissenschaftler Besorgnis darüber geäußert haben, dass wirksame Medikamente, einschließlich Behandlungen gegen Krebs, nicht zugelassen und der Gesellschaft vorenthalten wurden – aufgrund negativer Ergebnisse im Tierversuch.

Es wird also dringend Zeit, dass die Entwicklung von Alternativmethoden angemessen gefördert wird – im Sinne der Tiere und der Menschen. Glücklicherweise gibt es bereits erfolgreiche Innovationen, und auch führende Wissenschaftler sprechen sich inzwischen für ein Ende von Tierversuchen zur Medikamentenentwicklung aus.

Was Sie tun können

Bitte informieren Sie auch Freunde und Bekannten, warum Tierversuche überholt und gefährlich sind.
Unterstützen Sie zudem unsere Petition zur gerechteren Verteilung von Fördergeldern, damit die Forschung an und mit Alternativmethoden endlich angemessen finanziert wird!

*Uns ist durchaus bewusst, dass im Fachjargon der Begriff „trächtig“ verwendet wird. Da Tiere dadurch jedoch abgewertet werden, möchten wir uns bewusst davon abgrenzen und verwenden daher den Begriff „schwanger“.

Referenz: Greek, R. et al., 2011: The History and Implications of Testing Thalidomide on Animals. The Journal of Philosophy, Science & Law, vol. 11, issue 3, pp. 1-32.
Anmerkung: Die Autoren dieser Publikation berufen sich auf über 200 wissenschaftliche Studien.