Wir sollten unser Herz weit öffnen – selbst in Kriegszeiten

Ein Kommentar von Ingrid Newkirk

Auch wenn er nie offiziell erklärt wurde: Die Menschheit führt einen regelrechten Krieg gegen Tiere, der immenses Leid verursacht. Er fordert Tag für Tag unzählige Todesopfer, führt zu furchtbarem Blutvergießen und entreißt empfindungsfähige Lebewesen ihrer natürlichen Heimat. Die gute Nachricht ist: Weltweit gibt es zahllose Menschen, die sich gegen diese allgegenwärtige Ausbeutung und Misshandlung von Tieren einsetzen. Doch vor allem in Zeiten, in denen die Menschheit mit den Gräueln des Krieges konfrontiert ist, hören diese mitfühlenden Menschen häufig, sie sollten ihr Engagement für die Tiere aufgeben und sich auf „das Wesentliche“ konzentrieren. 

Kriege betreffen jedoch nicht nur Menschen. Es ist eine Tatsache, dass in Kriegen auch immer Tiere eingesetzt und getötet werden. Das zeigen nicht zuletzt zahlreiche Kriegsdenkmäler mit Tieren, die gegen ihren Willen zum Militärdienst gezwungen wurden. Aber das Thema „Krieg und Ausbeutung von Tieren“ umfasst noch so viel mehr.

In Kriegszeiten wird das alltägliche Leid derjenigen, die nicht in einem menschlichen Körper geboren wurden, um ein Vielfaches schlimmer, als es ohnehin schon ist. Viele Tiere werden schutzlos zurückgelassen, wenn ihre Halter:innen aus Krisengebieten flüchten – sofern diese Tiere überhaupt je von Menschen beschützt und versorgt wurden. Nun sind sie völlig auf sich allein gestellt, verhungern, erfrieren, sterben an Verletzungen.

Vielleicht haben auch Sie in den Medien Bilder von vollkommen überladenen Eseln gesehen, mit denen panische Familien derzeit aus dem Gazastreifen zu fliehen versuchen. Auf stundenlangen Märschen ziehen die verzweifelten Tiere bleischwere Lasten, unter denen sie fast zusammenbrechen. Sie leiden unter quälenden Schmerzen in den Beinen, der gesenkte Kopf ist Ausdruck ihrer Hoffnungslosigkeit und Trauer.

Die Krankenhäuser sind überfüllt, selbst für Menschen gibt es kaum noch Medikamente. Welche Chance haben da Esel, Hunde und Katzen, die zurückgelassen werden, wenn Menschen aus Krisengebieten wie der Ukraine, Aserbaidschan oder dem Gazastreifen fliehen? Auf der Website von PETA USA und anderen Tierschutzorganisationen finden Sie erschütternde Aufnahmen, die das unsägliche Leid dieser Tiere aufzeigen.

Vor langer Zeit durfte ich auf einer Konferenz zum Thema Gewaltlosigkeit in der Stadt Bethlehem einmal eine Rede halten. Zu den Teilnehmenden gehörten auch der Friedensbeauftragte des damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter und eine Reihe hauptsächlich, aber nicht ausschließlich jüdischer und palästinensischer Personen, die sich für Verhandlungen im Nahen Osten aussprachen. Viele der Referierenden sprachen von Gefangenschaft, Ungerechtigkeit, vom Verlust von Familienmitgliedern und von ihrer Freiheit. Und sie erzählten davon, dass sie mit Hass und Diskriminierung behandelt wurden. Fast alle beendeten ihren Vortrag mit einem Appell für mehr Anteilnahme und den Worten: „Sind wir denn keine Menschen?“

In meinem eigenen Redebeitrag zeigte ich auf, dass wir mit unserem persönlichen Konsum einen effektiven Beitrag zur Gewaltlosigkeit leisten können und damit bereits am Frühstückstisch beginnen sollten. Und ich endete mit dem Hinweis auf das Schlachthaus, an dem wir alle auf dem Weg zum Tagungsraum jeden Morgen vorbeikamen. Ich appellierte an die Anwesenden, dass wir Menschen unsere Vorurteile gegenüber anderen Lebewesen ablegen sollten, die – genau wie wir – Schmerz und Angst empfinden. Ich lud dazu ein, uns als Teil einer größeren Gemeinschaft zu betrachten und die Frage zu stellen: „Sind wir denn keine Lebewesen?“

Rosa Luxemburg war eine Friedensaktivistin, die wegen ihres Widerstands gegen den Ersten Weltkrieg inhaftiert und von Freikorpssoldaten ermordet wurde. Zwei Jahre vor ihrem Tod schrieb sie im Jahr 1917 einen Brief aus ihrer Zelle im Militärgefängnis von Breslau über den Krieg und die Nutzung von Tieren. Sie berichtete von Soldaten, die vor ihrem Fenster gnadenlos auf eine Herde Büffel einprügelten, bei denen es sich um sogenannte Kriegstrophäen aus Rumänien handelte. Sie schrieb: „Ein Wagen mit Säcken kam hereingefahren. Die Last war so hoch aufgetürmt, das die Büffel nicht über die Schwelle bei der Toreinfahrt gehen konnten. Der Fahrer, ein Soldat, schlug mit dem dicken Ende des Peitschenstiels derart auf die Tiere ein, dass die Aufseherin am Tor entrüstet fragte, ob er kein Mitleid mit den Büffeln habe. ‚Mit uns Menschen hat auch niemand Mitleid‘, antwortete er mit bösem Lächeln und schlug noch kräftiger auf sie ein.“

Schließlich gelang es den völlig erschöpften Büffeln, die Last über die Schwelle zu ziehen. Beim Abladen standen sie ganz still. Rosa Luxemburg schrieb: „Eines der Tiere blutete. Es blickte mit einem Ausdruck im Gesicht und in den sanften, schwarzen Augen wie ein weinendes Kind vor sich hin – ein Kind, das hart bestraft worden war, aber nicht weiß, wofür und wie es der Qual und der rohen Gewalt entgehen kann.“ Sie sprach von den saftig-grünen Weiden des Landes, in dem die Büffel einst lebten, die nun aufgrund ihrer „Herkunft“ nichts als Verachtung erfuhren. Sie schloss ihren Brief mit den Worten: „Und der ganze herrliche Krieg zog an mir vorbei.“

Weltweit gibt es zahllose mitfühlende Menschen, die sich Tag für Tag dafür einsetzen, die qualvolle Ausbeutung zu beenden, die Tiere aufgrund der Diskriminierungsform des Speziesismus durch Menschenhand erleiden. Diese mitfühlenden Menschen erleben die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit der Tiere hautnah – sowohl in Kriegs- als auch sogenannten Friedenszeiten. Sie fordern von der Gesellschaft eine humane Gesinnung gegenüber Tieren und appellieren an unsere Anteilnahme und Empathie, unser Mitgefühl und unseren Gerechtigkeitssinn. Und sie fordern uns auf, unsere Voreingenommenheit gegenüber nicht-menschlichen Tieren abzulegen, die für so viel Gewalt verantwortlich ist.

Als Einzelne können wir nicht viel tun, um Kriege zu beenden. Aber eines ist sicher: Mit Respekt, Wertschätzung und einer wohlwollenden Einstellung gegenüber allen Lebewesen können wir aktiv zum Frieden auf dieser Erde beitragen.